Der Mahayana Buddhismus, wovon Zen eine der relativ späten, wenn auch nicht die letzte Schule ist, ist durch die radikale, kompromisslose Verneinung der ontologischen Wirklichkeit der empirischen Welt gekennzeichnet. Die Annihilation der Dinge, die Entdinglichung der res, ist in der Tat eines der auffälligsten Merkmale des Mahayana Buddhismus überhaupt, sei es des indischen oder des chinesischen. In der Mahayana Terminologie lautet dieser negative Gedanke: „Alle Dinge sind leer“, oder „Alles ist leer“, er fasst die gesamte Philosophie des Mahayana-Buddhismus, wie sie sich in den Prajnaparamita Sutras darstellt, zusammen.

Der ontologische Negativismus, der sich in diesem Satz pointiert ausspricht, ist in der Tat für die Mahayana Mentalität charakteristisch, und dies so sehr, dass buddhistische Philosophie oft für radikalen Negativismus gehalten wird.

Das ist nicht ohne Grund. Denn beim Lesen von Mahayana Sutras stößt man auf fast jeder Seite auf äußerst pessimistische oder nihilistische pathetische Beschreibungen der Vergänglichkeit und der Unwirklichkeit aller Dinge in dieser Welt. Um ein beliebiges Beispiel herauszugreifen:

Alle Dinge kommen ins Sein und vergehen ins Nichts, nichts bleibt ewig. Wie Trugbilder, Wolken und aufblitzendes Licht sind sie. Keines der Dinge fährt fort zu bestehen. Keines von ihnen verweilt auch nur einen Augenblick. Alles, was existiert, ist in Wirklichkeit nicht existent. Es ist nur ein Traum, ein Flimmern der Hitze in der Luft. (Vimalakirti nirdesa)

Genau die gleiche „nihilistische“ Ansicht vom Wesen aller Dinge ist von einem Zen Meister   Seng Ts’an (? 606), dem dritten Patriarchen des Zen Buddhismus, in seinem „Gedicht auf den Geist“ (Hsin Hsin Ming)   knapper ausgedrückt (angemerkt sei, dass Zen Worte im allgemeinen erstaunlich prägnant, äußerst dicht und markig sind):

Träume, Illusionen und fliegende Blütenblätter in der Luft,
Warum bist Du so begierig, sie zu ergreifen?

Diese und ähnliche Wendungen sollten jedoch nicht als bloß pathetische Ausdrücke einer pessimistischen Sicht von Welt und Existenz betrachtet werden. Die Annihilation der Dinge im Mahayana Buddhismus hat einen tieferen philosophischen Sinn. Die vorliegende Abhandlung versucht, diesen Sinn zu erhellen.

Wenn der Buddhismus in dieser Weise die Wirklichkeit aller Dinge rundweg leugnet und sie als Träume, Illusionen und Täuschungen bezeichnet, wendet er sich gegen das gewöhnliche Weltbild des gesunden Menschenverstandes. Für diesen ist die „physische“ Welt, in der der Mensch lebt, in erster Linie ein festes Ganzes, zusammengesetzt aus einer unendlichen Menge von empirischen Dingen, wobei jedes von ihnen eine physisch reale Substanz mit vielerlei Eigenschaften und Wirkweisen ist. Diese Substanzen sind jeweils mit einem ihnen eigenen ontologischen Kern ausgestattet, der gewöhnlich als „Wesen“ verstanden wird, das die einigende Mitte für alle Eigenschaften und Wirkweisen der Substanzen bildet.

Jedes empirische Ding ist in dieser Sicht also eine kompakt aufgebaute ontologische Einheit, selbständig, sich selbst genügend und unabänderlich durch das eigene Wesen festgelegt, um das es sich kristallisiert und durch das es sich von allen anderen unterscheidet. Jedes Ding ist daher ontologisch „undurchlässig“ in dem Sinne, dass es durch seine Wesensgrenzen strikt gegen jedes Einströmen eines anderen geschützt ist. Eben auf einen solchen Zustand, als den sich die empirische Welt dem gesunden Menschenverstand darstellt, beziehen sich der so genannte Satz der Identität und der Satz vom Widerspruch, wenn sie behaupten, dass A gleich A ist und niemals Nicht A sein kann.

Anders ausgedrückt sind die empirischen Dinge gemäß dieser Betrachtungsweise so beschaffen, dass sie sich gegenseitig behindern. Der wechselseitige Ausschluss, der auf der wesenhaften Substanz jedes Dinges in sich selbst beruht, ist in der Tat das, was für den alltäglichen Blick des Menschen die empirische Welt grundlegend charakterisiert. Eben gegen diese Sicht der Dinge kämpft der Mahayana Buddhismus mit seinem Versuch, die feste Masse des Dinges zu „verflüssigen“. Die „Verflüssigung“ des Dinges ist der erste Schritt, den der Mahayana-Buddhismus im Kampf gegen die allgemein herrschende Sicht der Welt unternimmt. Aber bei diesem Kampf gegen den gesunden Menschenverstand geht er dazu über, für sich selbst einen besonderen philosophischen Standpunkt auszubilden. Wie im folgenden zu zeigen sein wird, entwickelt Zen mit seiner Sprachkritik diesen Gedanken von der „Verflüssigung“ der Dinge auf eine bemerkenswert originelle Weise.

In seiner Kritik an der Weltsicht des gesunden Menschenverstandes, die, wie gerade aufgewiesen, auf der festen Überzeugung von der ontologischen Wirklichkeit der empirischen Dinge beruht und die auf einer philosophisch höher entwickelten Ebene des Denkens dazu tendiert, sich zu einer „essentialistischen“ Konzeption von Ontologie zu entwickeln, beginnt der Mahayana Buddhismus mit der Feststellung, dass in jener Betrachtungsweise die empirische Welt und die Dinge in ihr notwendigerweise objekthaft aufgefasst werden. Jedes Ding existiert hier empirisch nur, sofern es Objekt   sei es nun erkannt oder wenigstens erkennbar   für ein erkennendes Subjekt ist.

Es scheint nun, dass die Korrelation zwischen Subjekt und Objekt in jedem Akt des Erkennens ursprünglich gegeben ist, mag es sich dabei um eine Empfindung, Wahrnehmung, Phantasie oder Vorstellung handeln. Das bedeutet natürlich, dass das Subjekt alles, was in seinem Erfahrungsfeld auftaucht, einfach deshalb, weil es erkennt, notwendig objektivieren muss. Das erkennende Subjekt, der „Geist“, ist immer objektivierendes Bewusstsein. Solange man innerhalb der Grenzen dieser Dimension des Denkens bleibt, ist man mit logisch semantischer Notwendigkeit gezwungen zuzugeben, dass es ohne Noema keine Noesis geben kann, und dass es kein Noema gibt ohne den Geist, der einen Akt der Noesis ausführt. Reine Noesis ist eine Unmöglichkeit, wenn nicht gar Unsinn. Bewusstsein ist, mit anderen Worten, immer ein, „Bewusstsein von“; es kann niemals reines und einfaches Bewusstsein sein.

Wenn der „Geist“ notwendig objektivierendes Bewusstsein ist, so ergibt sich die wichtige Folgerung, dass er die Dinge notwendigerweise essentialisieren muss. Denn es ist dem „Geist“ unmöglich, sich eines Dinges bewusst zu werden, außer er erkennt in diesem Ding ein Wesen. X ist nur sofern als das und das Ding erkannt (z. B. als Blume), als der „Geist“ in X ein bestimmtes Wesen (Blume sein) erkennt, durch das X ein authentischer Fall in der Klasse der mit dem Wort „Blume“ bezeichneten Dinge wird. Auf diese Weise sieht der Geist überall Wesen. Das ursprüngliche Chaos der Sinnesempfindungen wird damit übersichtlich zu einem organischen Ganzen geordnet, das sich aus einer unendlichen Anzahl von Objekten zusammensetzt, wobei jedes fest in seinen eigenen Wesensbestimmungen gegründet ist.

Es ist leicht zu sehen, dass die so konstituierte empirische Welt schließlich nichts anderes ist als ein Produkt des ursprünglichen Subjekt Objekt Gegensatzes, der innerhalb des Gesamtfeldes der kognitiv ontologischen Erfahrung des Menschen entstanden sind. Nach der Lehre des Buddhismus muss zuallererst diese Subjekt-Objekt-Spaltung, die dem menschlichen Geist so natürlich zu sein scheint und der man scheinbar nicht entgehen kann, annihiliert und außer Kraft gesetzt werden, wenn man auch nur einen flüchtigen Blick in die wahre Wirklichkeit (tathata ,“Sosein“) der Existenz tun will.

All dies darf jedoch nicht so verstanden werden, als lehne der Buddhismus die Existenz der empirischen Welt, wie man sich gewöhnlich vorstellt, gänzlich ab, einer Welt, in der alle Dinge dem „Bewusstsein von“ objektiviert und essentialisiert erscheinen, nämlich als viele in sich subsistierende Wesen, von denen jedes durch seine Wesensbestimmungen unbeweglich auf sein Selbstsein fixiert ist. Der Mahayana Buddhismus gibt bis zu einem gewissen Grade sogar die Wirklichkeit einer solchen Welt zu. Er fügt jedoch sogleich eine weitere Feststellung hinzu, dass nämlich die empirische Welt, die so als objektive Ordnung von Dingen vorgestellt wird, nur die phänomenhafte Oberfläche der Wirklichkeit ist. Es ist dies, so behauptet der Buddhismus, die gewöhnliche Weltsicht des durchschnittlichen Bewusstseins, dessen metaphysische Ebene noch nicht erweckt ist. Die wichtigste Implikation dieser Behauptung ist, dass es mehrere erkennbare Schichten innerhalb des menschlichen Bewusstseins zu unterscheiden gilt, das Bewusstsein also von mehrschichtiger Struktur ist.

Die Schulen des Mahayana Buddhismus haben im Laufe ihrer historischen Entwicklung verschiedene Erkenntnislehren entwickelt und haben eine Anzahl hochkomplizierter Modelle zur Klärung der wechselseitigen Beziehungen zwischen den verschiedenen Schichten   oder „Regionen“, wie sie genannt werden   des Bewusstseins vorgeschlagen. In Übereinstimmung mit der bekannten Tendenz des Zen Buddhismus, alles Verwickelte möglichst bis zur äußersten Grenze der Einfachheit zu reduzieren, werde ich in dieser Untersuchung das einfachste aller Modelle, das aufgestellt wurde, verwenden; danach wird das Bewusstsein als eine zweischichtige Struktur vorgestellt, die aus der „Oberflächen“  und „Tiefen“ schicht besteht, oder, wie man sie im Zen nennt, aus dem su ti (japanisch zoku tai), das wörtlich die „weltliche“ (d. h. profane) Dimension der Wahrheit, und dem shen ti (japanisch: sho tai), das die „heilige“ (d. h. ursprüngliche, absolute) Dimension der Wahrheit bedeutet.

Wenn das Bewusstsein zweidimensional ist, muss selbstverständlich auch die Wirklichkeit zweidimensional sein. In dieser letzteren Hinsicht meinen su ti und shen ti die „weltliche“ und die „heilige“ Dimension der Wirklichkeit. Die su ti Dimension wie die shen ti Dimension des Bewusstseins haben also je ihren eigenen Horizont, so dass in diesen zwei Horizonten die Wirklichkeit je verschieden erscheint.

Das auffälligste Kennzeichen der Oberflächenschicht des Bewusstseins liegt darin, dass sie von Grund auf in den Bereich des Subjekts und den des Objekts polarisiert ist. Die Subjekt Objekt Polarisation der Oberflächenschicht des Bewusstseins führt natürlicherweise dazu, dass sich das Bewusstsein in dieser Schicht mit dem subjektiven Bereich seiner selbst unter Ausschluss des objektiven Bereichs identifiziert und sich selbst als existentielles Zentrum aller persönlichen Erfahrungen, als „Ego“, begründet; damit wird der objektive Bereich des Bewusstseins offensichtlich nach außen gedrängt und zu einer „äußeren“ Wirklichkeit gemacht, die durch sich selbst besteht und dem Ego gegenübersteht. Ist damit die so genannte Außenwelt erstellt, so nimmt das Oberflächen-Bewusstsein in der Eigenschaft des Egos jedes Ding in dieser Welt als ein Objekt zur Kenntnis. Damit ist gegeben, was oben angedeutet wurde, dass nämlich das Bewusstsein unter den gewöhnlichen empirischen Bedingungen ausnahmslos „Bewusstsein von“ ist. Und eben dies nennt der Mahayana Buddhismus metaphorisch einen „Traum“, eine ontologische Illusion.

Die Welt der „Außendinge“, die sich so als Produktion unseres „Bewusstseins von“ erweist, ist als objektive Welt definiert. Jedes empirische Ding, das vom Oberflächen-Bewusstsein als das und das Ding erkannt wird, ist ein Objekt. Wenn aber, wie der Buddhismus behauptet, alles, was ein Objekt für ein erkennendes Subjekt ist, letztlich nur „Traum“ und die empirische Welt selbst eine ontologische Illusion großen Stils ist, genügte es, vom Schlaf zu erwachen, um die Wirklichkeit sehen zu können, wie sie wirklich ist. „Vom Schlaf erwachen“   ist in diesem Zusammenhang nur ein bildlicher Ausdruck für die Eröffnung einer neuen Dimension im Geist und für die Freisetzung außerordentlicher Erkenntniskräfte, die in der metaphysischen „Tiefe“ der Psyche verborgen liegen und normalerweise durch die überwältigende Herrschaft des Oberflächen-Bewusstseins an ihrer Aktivität gehindert sind. Der erste praktische Schritt, der in diese Richtung zu machen ist, besteht in der Entobjektivierung der Welt und der Dinge darin, die zunächst völlig objektiviert vorgefunden werden. Es gilt, die Dinge in ihrer prä objektiven Seinsweise sehen zu lernen, nämlich in dem Zustand, den sie hatten, bevor sie durch die erkennende Aktivität des Oberflächen-Bewusstseins objektiviert wurden. All dies mag den Leser an Merleau Ponty erinnern, der von einem „nicht thetischen Bewusstsein“ spricht, das im Grunde genommen nichts anderes als eine Art von unmittelbarer, nicht objektivierender Bewusstheit ist, und der in etwa gleichem philosophischem Sinn betont, wie wichtig es sei, eine „prä objektive Sicht  auf die Welt des Seins zu pflegen. Gegenüber der alt überkommenen Tradition der klassischen Philosophie des Westens, die sich mit der objektiven, nämlich objektivierten Welt beschäftigt, dringt er darauf, in der Rückkehr zur „Lebenswelt“ einen neuen Anfang der Philosophie zu finden. „Der erste philosophische Akt“, sagt er, „wäre…, zur gelebten Welt diesseits der objektiven Welt zurückzukehren“. Der Philosoph muss, um philosophisch neu anfangen zu können, zunächst einmal entschieden über die Sphäre der objektivierten Dinge hinausgehen und allen Dingen in jenem Zustand begegnen, in dem sie, vor allem Zwang durch die „essentiellen“ Fesseln, in kräftiger Lebendigkeit existieren.

Der Mahayana Buddhismus könnte Merleau Pontys Betonung der höchsten Wichtigkeit „einer prä objektiven Sicht“ der Dinge völlig beistimmen, wenn er nicht einen radikalen Unterschied zwischen seiner eigenen Position und der des französischen Phänomenologen bemerkte. Der Unterschied betrifft den Sinn, in dem das Wort „prä objektiv“ verstanden werden soll. Vom Standpunkt des Buddhismus aus ist das „prä-“ in Merleau Pontys „prä objektiv“ im Grunde horizontal gesehen in dem Sinne, dass es einfach die Rückkehr des erkennenden Subjekts (ohne dabei jedoch die Ebene des Oberflächen-Bewusstseins zu verlassen) zu einem ontologischen Zustand der Dinge zeigt, bevor diese zu „Dingen“ objektiviert und damit durch ihr je eigenes Wesen starr bestimmt werden. Anders gesagt, nach der Auffassung des Buddhismus bleiben bei Merleau Ponty die empirischen Dinge, gleichgültig ob vor oder nach ihrer Objektivierung, ob fest oder flüssig, innerhalb der Grenze dessen, was der Buddhismus als den su ti Bereich betrachtet. Das in Merleau Pontys Sinne verstandene prä objektive Ding mag bis zu einem gewissen Grade prä objektiv sein, aber nicht vollständig. Was Merleau Ponty „die erste Öffnung zu den Dingen hin“ nennt, denen man unter und vor „dem objektiven Denken, das sich zwischen den fertigen Dingen bewegt“, zu begegnen hat, ist schließlich nur der Ausgangspunkt des objektivierenden Bewusstseins selbst. Die Dinge, die durch eine solche „präobjektive Sicht“ erfasst werden, sind nicht mehr und nicht weniger als die potentiellen Objekte für das „Bewusstsein von“ des erkennenden Subjekts.

Solange ein Subjekt bleibt, das „Bewusstsein von“ Dingen in seiner Gegenwart hat, stehen diese kraft ihrer ontologischen Eigenschaft als Erkenntnisobjekte, Noemata, dem Subjekt gegenüber, mögen sie äußerlich auch noch so prä objektiv aussehen. Die Entobjektivierung der Dinge, die eine absolute Vorbedingung für die Verwirklichung der Prä objektivität ist, kann nie dadurch erreicht werden, dass man den Akt der Entobjektivierung einfach einseitig vorantreibt, dabei aber das Subjekt in seiner Subjektivität unberührt lässt. Vielmehr muss gleichzeitig die Entsubjektivierung des Subjekts durchgeführt werden. Die Annihilation der Objekte muss von der Annihilation des Egos begleitet sein. Das bedeutet, dass die gesamte Subjekt Objekt Spaltung des Bewusstseins mit einem Schlag transzendiert werden muss. Nur wenn dies gelingt, ist die Entobjektivierung der Dinge vollkommen und Prä objektivität erreicht. Damit öffnet sich dann die shen ti   Dimension des Bewusstseins, und die Wirklichkeit zeigt sich selbst auf einem völlig neuen inneren Horizont in einer völlig neuen Seinsweise im echten phainestai der Wirklichkeit jenseits von Subjekt und Objekt.

Das für den gewöhnlichen Verstand paradoxe Wesen dieses phainestai ist offenkundig. Denn phainestai ist hier das phainestai der Wirklichkeit als „Nichts“ (wu, japanisch: mu; der Ausdruck geht auf den ursprünglichen Sanskrit Schlüsselbegriff sunyata zurück, der wörtlich „Leerheit“ oder „Leere“ bedeutet). Die Wirklichkeit, die Welt des Seins, „erscheint“ (besser gesagt: „kommt zum Vorschein“, oder „zeigt sich“) in dieser metaphysischen Erfahrung als Nichts. Das Wort „Nichts“ oder „Leere“ könnte eine bloß negative Vorstellung nahe legen, aber es sollte nicht rein negativ verstanden werden. Denn es meint einfach die Verwirklichung eines ontologischen Zustands, in dem jedes Ding in der empirischen Welt aufhört, als das und das Ding, als etwas streng durch sein Wesen Bestimmtes zu existieren. Und da es in dieser Dimension des Seins nichts gibt, das als das und das Ding subsistiert, findet das Bewusstsein nichts, woran es sich festhalten könnte. Wenn das Bewusstsein nichts findet, woran es sich halten könnte, hört es auf, „Bewusstsein von“ zu sein: das „von“ ist eliminiert, und damit ist es jetzt „Bewusstsein“ rein und einfachhin. Der Zen Buddhismus nennt das Bewusstsein in einem solchen Zustand Nicht Geist. Es ist gleichsam eine in sich leuchtende Leere, die sich selbst erhellt, ohne irgendetwas zu objektivieren.

Der ganze Prozess der Verwirklichung des Nicht Geistes, wie er hier skizziert wurde, erfuhr eine meisterhafte Darstellung durch Seng Ts’an, den oben erwähnten dritten Patriarchen des Zen, in seinem „Gedicht auf den Geist“ (woraus ich oben zwei Verse über das Schein Wesen der empirischen Dinge zitiert habe):

Lass ab davon, der dualistischen Sicht verhaftet zu bleiben. Such‘ nicht nach Dingen mit solchem Blick. Die geringste Spaltung des Bewusstseins reicht hin, es in äußerste Verwirrung zu stürzen.
Wo es keine Tätigkeit eines unterscheidenden Geistes gibt, sind alle Dinge im Zustand ursprünglicher Unschuld. Im ursprünglichen Zustand der Unschuld existiert nicht das und das Ding. Wenn der unterscheidende Geist nicht entspringt, ist das Bewusstsein nicht mehr Bewusstsein. Das Subjekt verschwindet, wenn das Objekt verschwindet, das Objekt versinkt, wenn das Subjekt versinkt. Die objektive Welt gibt es auf Grund des Subjekts, das erkennende Subjekt gibt es auf Grund des Objekts. Willst Du wissen, was Subjekt und Objekt sind? Wisse, dass beide ursprünglich eine einzige Leere sind!

Hinsichtlich des reinen Bewusstseins, das sich als grenzenlos weites und „bodenlos leeres“ Feld der Wirklichkeit realisiert und ontologisch alle Dinge erleuchtet, ohne selbst ein „Ding“ zu sein, das der Erleuchtung bedürfte, bemerkt Seng Ts’an:

Leer, aber hell, leuchtet es durch sich selbst. Da braucht es keine erkennende Tätigkeit des Bewusstseins. Dies ist wirklich die Dimension des nicht denkenden Denkens, ein Zustand jenseits der Fassungskraft des gewöhnlichen Denkens und Fühlens.

„Nicht denkendes Denken“ (fei ssu liang, japanisch: hishiryo) ist ein äußerst wichtiger Schlüsselbegriff des Zen, der genau den Akt der absolut nicht objektivierenden Bewusstheit bezeichnet, die in der Tiefendimension des Bewusstseins zu realisieren ist; diese selbst wiederum ist im Zen Buddhismus als ein metaphysisches „Vermögen, das Undenkbare zu denken“, definiert. Das so bestimmte Wesen des nicht denkenden Denkens ist ferner von einem berühmten Zen Meister der Sung Dynastie, Hung Chih Cheng Chüeh, in seinen bekannten „Ermahnenden Worten zur Meditation“ (Tso Ch’an Chen) wie folgt erläutert:

Der eigentliche Kern der uns überlieferten Lehren der Buddhas und Patriarchen der folgenden Zeitalter liegt in der Verwirklichung der Noesis, ohne mit Dingen in Berührung zu kommen, und in der Erleuchtung von allem, ohne es zu objektivieren.

Man „weiß“, ohne mit Objekten in Berührung zu kommen. Gewiss ist eine solche Noesis etwas unendlich Feines und Tiefes. Man erleuchtet alles, ohne es zu objektivieren. Gewiss ist eine solche Erleuchtung etwas geheimnisvoll Tiefes.

Es ist eine unendlich feine Art des Erkennens, da sie ganz und gar kein unterscheidendes Bewusstsein einschließt. Es ist eine tief geheimnisvolle Art der Erleuchtung, da sie ganz und gar kein Objekt, das unterschieden wird, einschließt. Weil es ein Akt des Erkennens ist, der kein unterscheidendes Bewusstsein einschließt, ist es einzig jenseits von Subjekt und Objekt. Und weil es ein Zustand der Erleuchtung ist, in dem es keinerlei Spur von irgendetwas gibt, erfasst es einfachhin alles, ohne ein „Ding“ zu erfassen.

Das Wasser ist klar, durchsichtig bis auf den Grund. Und Fische schwimmen ruhig und langsam. Unermesslich ist der Himmel, unbegrenzt sich dehnend, und Vögel fliegen weit, weit entfernt.

Es wäre ein Leichtes und geschieht nicht selten beim Gespräch mit Zen Anhängern, der Erklärung eines solchen Sachverhalts mit dem Hinweis auf die Erfahrung der „Erleuchtung“, die wesentlich unbeschreibbar und unerklärbar sei, auszuweichen. Doch will ich diesen Weg in der vorliegenden Untersuchung nicht einschlagen. Ich möchte statt dessen jene philosophische Analyse einen Schritt weiter voranzutreiben versuchen, den ich mit der Deskription der Transformation oder sollte man sagen, dem Umschalten des Bewusstseins, von dem hier die Rede ist, von der Oberflächen zur Tiefendimension begonnen habe, und werde versuchen, möglichst einsichtig die besondere metaphysisch ontologische Landschaft zu beschreiben, als die sich die empirische Welt der Tiefendimension des Bewusstseins im wirklichen phainestai der Wirklichkeit darbietet. Zu diesem Zweck will ich hier die Sprachkritik ins Spiel bringen, die tatsächlich in der Ausbildung der Zen Philosophie eine zentrale Rolle spielte.

Wie eingangs dargelegt wurde, betrachtet der Mahayana Buddhismus im allgemeinen, besonders in seiner populären Form, die empirische Welt, wie sie gewöhnlich vom Menschen in seiner Alltagsexistenz gesehen wird, als „Traum“. Alle Dinge, selbst die härtesten materiellen Dinge, sind nach buddhistischer Auffassung in Wirklichkeit nichts als Traumvorstellungen; sie sind in diesem Sinne gänzlich „leer“ und „nichtig“, sunya.

Das Wort sunya (oder das davon abgeleitete abstrakte Substantiv sunyata „die Leere“) bedeutet in diesem Zusammenhang fachterminologisch nihsvabhava d. h. svabhava los, ohne svabha va. Svabhava (wörtlich „Selbst Wesen“) bedeutet den beständigen ontologischen Kern eines Dinges; also bedeutet nihsvabhava (die Negation der Wirklichkeit des svabhava) „Ohne wesenhafte Substantialität“, oder „substanzlos“. Dieser besondere Sinn ist gemeint, wenn alles in der Welt, ja die Welt des Seins selbst als sunya bezeichnet wird.

Der Begriff des sunyata geht auf Nagarjuna (ca. 150 bis 250) zurück, die größte Gestalt in der frühesten Phase des Mahayana Buddhismus. Nagarjuna hat die grundlegenden Bilder und Ideen der „Prajnaparamita Sutras“ zu einem vollständigen System der Mahayana Philosophie ausgearbeitet, das auf einer streng dialektischen Methode beruht, und hat dadurch die folgende historische Entwicklung der Mahanaya Philosophie grundlegend bestimmt.

Im Bemühen seine philosophische Weltsicht auszuarbeiten, beschritt Nagarjuna radikal den Weg eines kompromisslosen sunyata Negativismus und verfolgte das Problem bis zur äußersten Grenze der logischen Möglichkeit, indem er jede „substantielle Wirklichkeit“ (svabha va) von Dingen in der Welt ausnahmslos dialektisch bestritt.

Seine Absicht ging, wie man sagt, ursprünglich zum Teil darauf, den Mann auf der Straße von seinem hartnäckigen ontologischen „Leiden“ zu heilen; darunter ist der natürliche, unkritische Glaube an die Wirklichkeit der erscheinenden Dinge (der so genannten materiellen Dinge) zu verstehen, von denen man fälschlich annimmt, sie seien wesenhaft in sich subsistent, so wie sie in der (wiederum so genannten) Außenwelt wahrgenommen werden, während es in Wahrheit überhaupt kein svabhava, kein Wesen, gibt. Denn alles ist in diesem Sinne „nichtig“ und leer“. Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass Nagarjuna dieses ontologische „Leiden“ des gewöhnlichen Menschen auf den trügerischen Einfluss der Sprache zurückführt, was er durch einen eigentümlichen Gebrauch des Wortes prapanca anzeigt. So heißt es etwa in der „Abhandlung über den Mittel Weg“, den Mulamadhyamaka karika […]: „Die wahre spirituelle Realisierung wird erst erreicht“, sagt er, „wenn alle Befleckungen durch das Karma vernichtet sind“. Die Befleckungen durch das Karma sind der unterscheidenden Aktivität des Geistes zuzuschreiben. Alle diese werden durch semantische Zerstreuung (prapanca) verursacht. Die semantische Zerstreuung der Wirklichkeit wird erst in der Erfahrung des sunyata völlig vernichtet.

„Befleckung durch das Karma“ meint hier direkt die Existenz von wesenhaft bestimmten Dingen als Objekten des unterscheidenden Bewusstseins, das, gerade weil es ein Ding vom anderen unterscheidend abhebt, ihnen in positiver oder negativer Verhaftung verfällt. Eben diese Dinge erlangen aber ihre Existenz durch die unterscheidende Aktivität (vikalpa) des Geistes   denn Unterscheiden bedeutet, Wirklichkeit zu artikulieren. Durch diese natürliche Funktion des Geistes artikuliert man die sonst absolut unartikulierte Wirklichkeit (sunyata) zu einer unendlichen Menge falscher Fragmente und hält sie dann für Dinge, die wirklich außerhalb des Geistes existieren (d. h. man objektiviert sie). All dies, behauptet Nagarjuna, ist durch prapanca verursacht.

Das Wort prapanca bedeutet im normalen Sanskrit Verschiedenheit, Mannigfaltigkeit, die Erscheinung verschiedenartiger Dinge. Ich habe es als „semantische Zerstreuung“ übersetzt, weil es in Nagarjunas Philosophie als Fachausdruck vor allem die Artikulation der ursprünglichen Leere zu verschiedenen Wesen in Entsprechung zu den Wortbedeutungen meint. Die oben zitierte Stelle macht deutlich, dass, nach Nagarjuna, die Sprache in ihrem semantischen Aspekt letztlich geradezu als die Quelle der ontologischen Täuschung des Menschen angesehen werden muss, nämlich als Quelle seines entstellten Erkennens verschiedenartig artikulierter Dinge in der Außenwelt.

Nun verlasse ich Nagarjuna, der praktisch als der Begründer der Schulen der Mahayana-Philosophie betrachtet wird, um zu einer allgemeineren Darlegung überzugehen, dass nämlich eine tief eingewurzelte Überzeugung vom trügerischen Wesen der Sprache die primäre Grundlage der „negativen“ Philosophie des Mahayana-Buddhismus ist. Sprache wird grundsätzlich für trügerisch gehalten, weil sie semantisch die Wirklichkeit, die als sunyata nun einmal ein nahtloses nonduales Ganzes ist, in abgetrennte Stücke zerschneidet, diese „verwesentlicht“ und so aus ihnen verschiedenartige Dinge erschafft, von denen jedes wesenhaft als das und das Ding festgelegt ist. Alle so genannten Dinge sind daher hypostasierte Wortbedeutungen. Ist die semantisch artikulierte Weltanschauung einmal hervorgebracht, so überlagert sie die Wirklichkeit, wie sie tatsächlich in ihrem ursprünglichen unartikulierten Zustand ist, nämlich in ihrer „grenzenlosen Offenheit“, wie es im Zen heißt.

Man kann diesen Sachverhalt auch so beschreiben, dass die Sprache durch die Konstruktion von Wesenheiten da, wo es gar keine gibt, die ständig strömende sunyata-Wirklichkeit fixiert und zum Stillstand bringt, sie in alle Richtungen zerstreut, und dass sie, indem sie weiterhin überall starr fixierte Grenzen festlegt, das unbegrenzt offene Feld der Wirklichkeit in ein System unbeweglicher Einheiten, hypostasierter Wortbedeutungen transformiert, die wie Leichname oder versteinerte leblose Gestalten sind. Eben dies ist die Weise, wie das Oberflächen-Bewusstsein sunyata ansieht, das dann selbstverständlich nicht mehr sunyata ist. Das Oberflächen-Bewusstsein steht in diesem Sinne völlig unter dem trügerischen Einfluss der Sprache als einem höchst kunstvollen – und daher umso gefährlicheren – Mechanismus der eidetischen Artikulation von Wirklichkeit.

Es dürfte deutlich geworden sein, dass mit dem Terminus „Sprache“ in diesem Zusammenhang nicht die kommunikative Ausdrucksfunktion der Rede (parole, wie Saussure es genannt hat), sondern hauptsächlich und in erster Linie die semantisch-kognitive Funktion der Sprache (langue im Sinne de Saussures) gemeint ist. Sprache im letzteren Sinn wird ferner als eine unbewusste Ablagerung der semantischen Wirkungen vorgestellt, die von den Wörtern zurückbleiben, die in der Vergangenheit aktuell oder virtuell in Gebrauch waren.

Es ist anzumerken, dass die „Vergangenheit“, um die es hier geht, nicht auf die vergangenen Erfahrungen einer einzelnen individuellen Person beschränkt ist, dass sie also über den Bereich dessen, was die individuelle Person tatsächlich erfahren hat, hinausgeht und tief in die Gesamtheit der Lebenserfahrungen ihrer Eltern und Vorfahren zurückreicht, sofern ihr diese in der Form der Muttersprache überliefert worden sind. Die „semantischen Wirkungen“ aller dieser Erfahrungen, seien sie unmittelbar sprachlich oder auch vorsprachlich (solange sie nur nennbar, also sprachlich unterscheidbar sind), werden, sobald der Mensch in der Kindheit seine Muttersprache gebrauchen lernt, aufbewahrt in dem, was die Yogacara-Schule des Buddhismus das „Speicher-Bewusstsein“ (alaya-vijnana) in der seelischen Tiefe der Person nennt.

Das sprachliche Speicher-Bewusstsein – oder das sprachliche Unbewusste, wie man es nennen mag -, ist also ein Magazin der semantischen Energie der Wörter, die sich dort ständig ansammeln und der Gestalt dessen, was die Yogacara-Philosophen „bija“ oder psychische „Samenkörner“ nennt, lebendig und potentiell aktiv bleiben.

Diese psychischen „Samenkörner“ sind durch eine innewohnende Tendenz gekennzeichnet, sofort, wann immer sich eine Gelegenheit bietet, in einen Zustand semantischer Erregung zu geraten und, verwandelt in Bilder und Vorstellungen, an die Oberfläche des Bewusstseins zu steigen,  um als Objekte des „Bewusstseins von“ die Richtungen der erkennenden Aktivität positiv zu bestimmen.

Damit wird das eigentlich ungeteilte Ganze der sunyata-Wirklichkeit entsprechend den semantischen Konfigurationen der „Samenkörner“ in verschiedene ontologische Sparten aufgeteilt. Und unverzüglich zeigen sich Gestalten „äußerer Dinge“ in der so genannten Außenwelt.

Weil man sich dieser „Dinge“ bewusst ist, aber nicht die Wirksamkeit des sprachlichen Speicher-Bewusstseins wahrnimmt, die diese erst entstehen ließ, tendiert man dazu sich vorzustellen, dass sie objektiv in der Außenwelt da seien, völlig unabhängig vom menschlichen Geist. Die ontologische Verführung der Sprache ist derart, dass man normalerweise schließlich von der objektiven Existenz der äußeren Dinge vor einem fest überzeugt ist, sich also der Tatsache nicht bewusst wird, dass sie nur Erscheinungsformen von Samen sind, die ständig aus der Tiefe des Speicher-Bewusstseins auftauchen und wieder dahinein verschwinden, und dass die Außenwelt selbst nur ein Erzeugnis der symbolisch-ontologischen Verwandlung des semantischen Potentials eines je besonderen „Samenkorns“ ist. Das ist, in aller Kürze, der innere Prozess, durch den sich, dem Buddhismus nach, die empirische Welt unter gewöhnlichen Bedingungen dem Geist zeigt.

Es dürfte einleuchten, dass das Bild der empirischen Welt, die damit als Komplex von selbständig subsistierenden ontologischen Einheiten erscheint, von denen jede streng innerhalb der Grenzen ihres eigenen svabhava oder Wesens bleibt, ein Bild der Wirklichkeit ist, wie es durch das Oberflächen-Bewusstsein gesehen wird, das, wie oben gesagt, von Natur aus so beschaffen ist, dass es seine kognitive Funktion nur unter dem irreführenden Einfluss der Sprache ausübt. Ist dies der Fall, so ist daraus natürlich zu schließen, dass man, um die Wirklichkeit zu erfassen, wie sie wirklich ist, vor allem durch den „farbigen Schleier“ der ontologischen Artikulation hindurchbrechen muss, der durch die Wesen hervorbringende Kraft der semantischen „Samenkörner“ im sprachlichen Speicher-Bewusstsein hergestellt wird. Man muss, anders ausgedrückt, über die Sprache hinausgehen und sich von der Herrschaft der Wörter befreien. Ist das geschehen, so ist man schon im Bereich dessen, was ich oben die Tiefenschicht des Bewusstseins genannt habe.

Sprache ist, wie ich oben zu zeigen versucht habe, grundlegend von solcher Natur, dass sie Dinge herausartikuliert. Wird ein Name einem bestimmten Teil der Wirklichkeit gegeben, so begründet sich dieser Teil der Wirklichkeit, in Übereinstimmung mit der semantischen Konfiguration des Wortes, als bestimmtes „Ding“, das dem Namen entspricht. Das Ding wird unverzüglich verwesentlicht, denn ein Ding kann nur dann ein Ding sein, wenn es als das und das Ding erkennbar ist; aber als das und das Ding erkennbar zu sein, bedeutet, ein Wesen zu haben.

Daher würde die Wirklichkeit, wie sie sich der Tiefenschicht des Bewusstseins, die definitionsgemäß jenseits der Sprache liegt, zeigen würde, naturgemäß Wirklichkeit sein, wie sie ist, bevor sie beim Durchgang durch das Netz der artikulierenden Wörter semantisch und wesenhaft in Segmente geteilt wird. Diese vorsprachliche Wirklichkeit ist sunyata, die ursprüngliche Leere. Der Zen-Buddhismus nennt es Nichts (wu). Diese Termini sollen auf den ursprünglichen, noch nicht artikulierten Zustand der Wirklichkeit hinweisen, in dem es absolut kein sprachlich gesetztes, wesenhaft verfestigtes Ding gibt. Da es hier nichts Erkennbares gibt – denn, wie schon gezeigt, ist da, wo es kein Wesen gibt, nichts als das und das Ding erkennbar -, ist die Wirklichkeit in diesem vorsprachlichen Zustand, kurz gesagt, Nichts. Als ein chinesischer Kaiser die Frage stellte, was für den Buddhismus die höchste „heilige“ Wahrheit sei, soll der indische Mönch Bodhidharma, der erste Patriarch des Zen, die – so schien es dem Kaiser – rätselhaften Worte gesprochen haben: „Grenzenlos offen, nichts Heiliges!“

Das grenzenlos offene Feld der Wirklichkeit ist wie ein unendlicher Kreis, dessen Umfang unbestimmbar und dessen Zentrum überall ist. Das Nichts hat nun einen positiven wie einen negativen Aspekt. In negativer Hinsicht ist es wörtlich Nichts in dem Sinne, dass nichts Bestimmtes und Begrenztes in der ganzen Weite seines Feldes feststellbar ist. Da gibt es, wie Zenbuddhisten zu sagen pflegen, „nicht das geringste Körnchen aufwirbelnden Staubes“.

In positiver Hinsicht jedoch ist das Nichts ontologische Fülle. Gerade weil die sunyata-Wirklichkeit „nichtig“ und „leer“ ist von allem, was wesenhaft als das und das Ding festgelegt ist, und weil sie keine ontologischen Bestimmungen hat, ist sie in der Lage, sich selbst in vollkommener Freiheit zu jedem Beliebigen zu determinieren. Die vorsprachliche Wirklichkeit, die der Nullpunkt von Bewusstsein und Sein ist, ist zugleich der Ursprungsort von Bewusstsein und Sein.

Als Meister Chao Chou (japanisch: Joschu 778-897), eine hervorragende Gestalt in der frühen Geschichte des Zen-Buddhismus, gefragt wurde, wie der letzte metaphysische Zustand der Wirklichkeit beschaffen sei, wenn er noch nicht auch nur mit einem Körnchen Staub befleckt sei, soll er geantwortet haben: „Alle Dinge sind da!“

Sunyata ist auf diese Weise unmittelbar mit der empirischen Welt verbunden. Man sollte vielleicht besser sagen, dass sunyata sich unmittelbar in die Welt der empirischen Dinge verwandelt. Mit anderen Worten, sunyata annihiliert alles und erschafft zugleich alles. Wie oft recht gesagt wird, ist sunyata selbst a-sunyata oder die „Leere“ die „Nicht-Leere“.

Grenzenlos und endlos steigen Dingerscheinungen der unauslotbaren „Leere“ des sunyata auf, als Weisen seiner Selbstbestimmung. Es mag scheinen, als ob ich damit wieder zur Welt der ontologischen Artikulation zurückgekommen bin. Denn sunyata kann nicht a-sunyata sein – oder um eine für Zen typischere Terminologie zu gebrauchen: das Nichts kann nicht das Sein sein -, ohne sich selbst verschiedenartig zu determinieren, also ohne sich selbst zu Erscheinungsformen zu artikulieren. Wie sich aber oben ergab, kommt in dem Augenblick, wo Artikulation einsetzt, Sprache ins Spiel; die semantischen Potentiale (die „Samenkörner“) geraten sofort in einen Zustand der Erregung und projizieren aus sich heraus verschiedene Bilder von Dingen auf die Leinwand der Außenwelt.

Bedeutet dies, dass ich eben dadurch, dass sunyata a-sunyata ist, wieder in die gleiche alte empirische Welt wie vorher zurückgestoßen bin? Ein flüchtiger Blick auf den gegebenen Stand der Dinge scheint diese Ansicht zu bestätigen. Überdies scheinen Äußerungen von Zen-Anhängern selbst oft nahe zu legen, dass die empirische Welt vor und nach der Realisierung des sunyata aller Dinge absolut gleich bleibt. Man denke zum Beispiel an die folgenden berühmten Worte von Ch’ing Yüan Wei Hsin (japanisch: Seigen Ischin), einem bekannten Zen-Meister der Sung-Dynastie (11. Jahrhundert):

Vor dreißig Jahren, bevor ich, nun ein alter Mönch, mit der Zen-Ausbildung begonnen hatte, war ich gewohnt, einen Berg als Berg und einen Fluss als Fluss zu sehen. Später hatte ich Gelegenheit, erleuchteten Meistern zu begegnen, und unter ihrer Führung konnte ich bis zu einem gewissen Grad die Erleuchtung erlangen. Wenn ich auf dieser Stufe einen Berg ansah, sieh da! , das war kein Berg. Wenn ich einen Fluss ansah, sieh da!, das war kein Fluss. Nun aber habe ich zu einer Einstellung letzter Gelassenheit gefunden. Jetzt sehe ich einen Berg als Berg und einen Fluss als Fluss, geradeso wie früher.

Aber trotz der scheinbaren Identität gibt es einen tiefen Unterschied zwischen der empirischen Welt, wie sie auf der ersten Stufe (nach Meister Ch’ing Yüans Unterscheidung) gesehen wurde, und der empirischen Welt, wie sie auf der dritten Stufe erscheint. Denn auf der dritten Stufe wird die empirische Welt wahrgenommen, wie sie durch das Auge des Tiefenbewusstseins erscheint, das erst durch die Realisierung des reinen sunyata durch die Zen-Erfahrung auf der zweiten Stufe geöffnet worden ist. Die zweite Stufe ist das Stadium einer völligen Annihilation aller Dinge, in dem „ein Berg kein Berg, ein Fluss kein Fluss ist“.

Das Tiefenbewusstsein, das auf der dritten Stufe verwirklicht wird, erfährt alle Dinge vom Standpunkt des reinen sunyata aus. Auch auf der dritten Stufe, also selbst da, wo man zur gewöhnlichen Welt der empirischen Dinge absteigt, verlässt man niemals die zweite Stufe. Statt einfach zur empirischen Welt zurückzukehren und sie mit dem Oberflächen-Bewusstsein, das die erste Stufe kennzeichnet, wahrzunehmen, sieht man die empirische Welt vom Gesichtspunkt der zweiten Stufe aus, auf der alle Dinge vollkommen annihiliert worden sind. Dies führt naturgemäß zu einer außergewöhnlichen Sicht der empirischen Welt.

Das Tiefenbewusstsein hat auf diese Weise sozusagen ein Doppelfokus-Auge. Einerseits sieht es alle Dinge reduziert auf den ontologischen Zustand von Nicht-Wesenheiten, als „Nichts“. Andererseits sieht es sie aber als individuelle Wirklichkeiten aktual existieren. Jedes Ding in der Welt wird zugleich unter diesen zwei einander widersprechenden Aspekten betrachtet.

Entsprechend ist die empirische Wirklichkeit, wie sie sich im Tiefenbewusstsein spiegelt, zweidimensional. Eine Blume etwa ist eine Nicht-Blume und ist dennoch eine Blume. Jedes Ding ist so eine ontologische Einheit von sunyata und a-sunyata, von Nichts und Sein.

Insofern sie a-sunyata ist, ist die Wirklichkeit auf der dritten Stufe der Zen-Erfahrung deutlich artikuliert. Die ontologische Artikulation der Wirklichkeit schließt aber, wie schon gezeigt wurde, notwendig die semantische Wirksamkeit der Sprache ein. So kommt es, dass Zen zwar strikt fordert, die Sprache einmal völlig zu transzendieren, damit sunyata in seiner metaphysischen Reinheit verwirklicht werden könne, dann aber auch fordert, die Sprache so zu gebrauchen, dass sie die Dinge in der empirischen Dimension der Wirklichkeit semantisch ausartikuliert, ohne sie dabei zu verwesentlichen. Die Tiefensicht-Funktion der Sprache muss daher eine absolut freie, nicht-verwesentlichende Artikulation der Wirklichkeit, in Übereinstimmung mit dem a-sunyata-Aspekt  von sunyata sein.

In der „Sprachsammlung“ von Chao Chou, einem Zen-Meister der T’ang-Dynastie, auf den ich mich schon oben bezogen habe, findet sich der folgende „Dialog“ (mondo), der sich gerade mit diesem Problem befasst.

Ein Mönch fragte den Meister: „Wie ist es, wenn ich nichts Bestimmtes sehe?“ (Das meint: Wenn ich alle ontologischen Artikulationen transzendiert habe, sehe ich nirgendwo etwas Bestimmtes. Wie lässt sich unterscheiden, ob ich in einem solchen Zustand bin?) Der Meister deutete auf eine Wasserflasche vor sich hin und fragte den Mönch: „Was ist das?“ Der Mönch: „Eine Wasserflasche.“ Darauf erwiderte der Meister: „Mit deinem Nichts-Bestimmtes-Sehen scheint es ja weit her zu sein!“‘

Wie der Kontext zeigt, wurde die sarkastische Schlussbemerkung Meister Chao Chous dadurch hervorgerufen, dass der Mönch in dem Augenblick, als er das Ding beim Namen („Wasserflasche“) nannte, aus dem Bereich der Nicht-Determination in den Bereich des Oberflächen-Bewusstseins zurückfiel, durch das er dort vor sich ein wesenhaft determiniertes Objekt namens „Wasserflasche“ erkannte.

Noch ein anderes Beispiel aus der bekannten Koan-Sammlung Wut Min Kauen (japanisch: Mumonkan):

Meister Schou Schan (japanisch: Schuzan, 926-993) hob seinen Bambusstab auf, zeigte ihn seinen Schülern und sagte: „Mönche, wenn ihr das einen Bambusstab nennt, legt ihr es fest (nämlich durch sein Wesen). Wenn ihr es nicht Bambusstab nennt (indem ihr nämlich schweigt), verstoßt ihr gegen die Tatsachen (dass es nämlich wirklich und phänomenal ein Bambusstab ist). Sagt mir, ihr Mönche augenblicklich: Wie wollt ihr es nennen?“ (Koan Nr. 43)

Wenn Meister Schou Schan hier seine Schüler in diese logische oder semantische Sackgasse treibt, verlangt er offenbar von ihnen, seine Frage durch ein Wort oder eine Geste aus ihrem Tiefenbewusstsein, als ontologische Einheit von sunyata und a-sunyata zu beantworten. Konkreter ausgedrückt sollte die in dieser Dimension realisierte Wasserflasche als Einheit der Widersprüche, nicht Wasserflasche zu sein und doch Wasserflasche zu sein, dargestellt werden. Das ist nur realisierbar, wenn die Wasserflasche wesenlos ist, nämlich leer von dem determinierenden Wesen, eine Wasserflasche zu sein, denn durch ein solches Wesen würde sie in den Mauern des Wasserflasche-Seins eingeschlossen und könnte niemals darüber hinaus. Erst im Rahmen einer solchen Wesensbestimmung beginnen der Satz der Identität und sein Folgesatz, das Gesetz des Widerspruchs, ihre Gültigkeit zu zeigen. Ist einmal eine wesenhafte Artikulation getroffen, dann ist A unausweichlich A und kann niemals Nicht-A sein.

Auf der dritten Stufe der Zen-Erfahrung, wie sie bei Ch’ing Yüan strukturiert ist, sind jedoch alle Dinge wesenlos. Zwar sind alle Dinge artikuliert, aber sie sind wesenlos artikuliert. Das hat zwei wichtige ontologische Konsequenzen. Zunächst ist zu bemerken, dass jedes einzelne Ding in der Phänomen-Dimension der Existenz zur Erscheinung gebrachtes sunyata ist. Es ist sunyata, das direkt zu einer Erscheinungsform von a-sunyata artikuliert ist, ohne dass dabei ein ontologischer Zustand zwischen den zwei Dimensionen der Wirklichkeit vermittelte. Der wichtigste Punkt ist dabei, dass jedes Ding, das in der empirischen Welt wahrnehmbar ist, in jedem Augenblick eine Verkörperung jener metaphysischen Energie ist, die das ganze Feld von sunyata erfüllt und sich in einer Erscheinungsform auf der empirischen Ebene der Wirklichkeit entlädt. Es ist das absolut Unartikulierte, das sich selbst völlig in die Form eines empirischen Dings hinein artikuliert. Es ist das Namenlose, das nennbar wird. Jedes einzelne der empirischen Dinge ist das Ganze der sunyata-Wirklichkeit in ihrer Verkörperung.

Hört! Einmal fragte ein Mönch Chao Chou: „Was bedeutet es, dass der erste Patriarch des Zen von Indien nach China kam?“ (Diese im Zen übliche Ausdrucksweise bedeutet: „Was ist eigentlich sunyata? Chao Chou zeigte auf einen Baum im Hof und erwiderte: „Die Zypresse im Hof!“ (Wu Min Kuan, Koan Nr. 31)

Die Zypresse ist eine Zypresse (A ist A). Aber sie ist nicht nur eine Zypresse. Sie ist auch alle anderen Dinge (A ist B, C, D, . . . X). Eben das versteht Zen unter der Formel „A ist Nicht-A“. In der Tradition der Zen-Kultur hat diese Sicht der empirischen Welt oft poetischen Ausdruck gefunden, wie etwa: „In einem Stäubchen ist das ganze Universum enthalten“, oder „Eine Blume blüht, und die ganze Welt blüht in den Frühling hinein“. Meister Yüan Wu (japanisch: Engo, 1063-1135), der berühmte Kompilator der Koan-Sammlung „Niederschrift vom blauen Felsen“ (Pi Yen Lu), schreibt in der Einleitung zu diesem Buch:

Wenn ein Stäubchen aufsteigt, sagt man, steige darin die ganze Erde auf. Wenn eine Blume zum Blühen kommt, sagt man, ihre Bewegung versetze das ganze Universum in Schwingung. Was ist aber dann der Zustand, in dem noch kein Stäubchen aufsteigt und noch keine Blume blüht?

Zweitens ist, sodann über die empirische Welt, wie sie dem Tiefenbewusstsein in der Zen-Erfahrung der dritten Stufe erscheint, zu sagen, dass alle Dinge hier durch eine, wie ich sagen möchte, ontologische Transparenz gekennzeichnet sind.

Das Oberflächenbewusstsein sieht die Welt der empirischen Vielfalt als eine ontologische Ordnung, deren konstituierende Einheiten sich eindeutig und unüberholbar von einander unterscheiden und einander entgegengesetzt sind. Strikt auf die Grenzen des eigenen Wesens beschränkt, ist jedes Ding massiv und undurchsichtig in dem Sinne, dass alle anderen Dinge von ihm ausgeschlossen sind. Das Ganze ist damit eine Welt der gegenseitigen ontologischen Behinderung aller Dinge.

Demgegenüber sieht das Tiefenbewusstsein die gleiche empirische Welt völlig verwandelt. Es gibt keine ontologische Behinderung zwischen den Dingen mehr. Alle Dinge sind, da sie wesenlos sind, vollständig frei. Sie sind für einander offen, unendlich durchscheinend. Früher waren die Dinge, mit dem Auge des Oberflächen-Bewusstseins gesehen, dunkel, undurchsichtig und standen sich gegenseitig im Weg. Jetzt, nachdem sie von ihren Wesensgrenzen entschränkt sind, sind sie in einem Zustand ontologischer Durchlichtetheit und Transparenz. Da sie wesenlos lichthaft und durchscheinend sind, durchsetzen sie sich ungehindert gegenseitig, so dass das ganze Universum als ein fein gesponnenes Gewebe einander durchdringender Lichtstrahlen erscheint.

Dieser Sicht der empirischen Welt hat Hsüan Scha Schih Pei (japanisch: Genscha Schibi, 835-908) einen charakteristischen Ausdruck nach Art des Zen gegeben, knapp, aber aufschlussreich: „Das ganze Universum mit seiner grenzenlosen Ausdehnung in alle Richtungen ist in Wahrheit nur ein kleiner Kristall von Licht.“ Und P’an Schan Pao Chi (japanisch: Banzan Höschaku), ein bekannter Zen-Meister des 8. Jahrhunderts, sagt:

Der Geist-Mond scheint, einsam und rund. Licht hüllt alle Dinge in der Welt ein. Nicht, dass das Licht die Dinge erleuchtete. Nicht, dass die Dinge im Licht existierten. Denn Licht und Welt existieren beide nicht.
Was für ein Ding ist „ES“ dann?

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