EuropaInteressante Gedanken zu Europa von Julius Evola

Der Europagedanke gewinnt heute bei den meisten verantwortungsvollen Geistern unseres Kontinentes immer mehr Boden. Man ist sich jedoch selten über einen Punkt von grundlegender Bedeutung klar: Ob dieser Gedanke aus der Notwendigkeit stammt, sich zu verteidigen gegen den drohenden Druck außereuropäischer Mächte und Interessen, oder ob man höher zielt, ob man nach einer organischen Einheit strebt, die einen positiven Inhalt und ein eigenes Gesetz hat. Soll die europäische Einheit eine nur realpolitische Bedeutung oder soll sie vor allem eine geistige Basis haben?

Die meisten föderalistischen Lösungen gehören der ersten Alternative an und können nur den zufälligen Charakter einer Vereinigung von Kräften haben, die – da sie jedes inneren Bandes entbehren – bei Veränderung der Umstände wieder auseinanderfallen. Die entgegengesetzte Lösung – die organische – ist aber mit schwer erfüllbaren Voraussetzungen verbunden. Wir wollen sie hier in Kürze betrachten.

Vor allem ist festzustellen, daß der Ausdruck „Nation Europa“ zwar als Mythos eine Bedeutung haben kann, daß er aber von Standpunkt eines streng systematischen Denkens nicht einwandfrei ist. Der Nation-Begriff gehört im Wesen mehr der naturalistischen als der eigentlichen politischen Ebene an und setzt die nicht aufzuhebende Eigenart eines bestimmten Ethnos, einer Sprache, einer Geschichte voraus. All diese Eigenarten können und dürfen nicht zu einer einzigen gemischten Einheit Europa verschmolzen werden. Ebensowenig dürfen uns die mehr oder weniger standartisierten Züge der europäischen Lebensart täuschen. Diese Züge stehen eher mehr oder weniger im Zeichen der Zivilisation als in dem einer Kultur, sie sind nicht mehr so als europäisch denn als modern zu bezeichnen und sind nunmehr fast überall in der Welt zu finden.Die europäische Einheit kann nur von höherer Ordnung sein als jede, die den Nation-Begriff als solchen bestimmt. Sie kann nur die Form eines „aus Organismen bestehenden Organismus“ haben; an ihrer Spitze und in ihrem Mittelpunkt sollte die geistige Wirklichkeit und die übergeordnete Hoheit des unum quod non est pars – um uns dieses Danteschen Ausdrucks zu bedienen – walten.

Eine organische Einheit ist ohne ein Prinzip der Beständigkeit undenkbar. Es ist nun zu betrachten, wie diese Beständigkeit für die europäische Einheit gesichert werden kann. Es leuchtet ein, daß keine Beständigkeit in einem Ganzen gefunden werden kann, wenn sie nicht schon in den Teilen vorhanden ist. Die Vorbedingung zu europäischen Einheit ist daher das, was wir die organisch Integration der einzelnen Nationen nennen möchten. Das europäische Gefüge würde jeder wahren Festigkeit entbehren, wenn es sich einerseits auf eine Art internationalen Parlaments stützte, wenn es andererseits politische Systeme umfassen würde, die, wie es bei dem demokratisch-repräsentativen System der Fall ist, in keiner Weise die Kontinuierlichkeit der Richtung und der Führung gewähren können, weil sie dauernd und wechselnd von unten her bestimmt sind.

Die historische Betrachtung bestätigt diesen Zusammenhang. Die Auflösung der europäischen mittelalterlichen Oekumene hat in dem Augenblick ihren Anfang genommen, in dem die Nationalstaaten – Frankreich als erster durch die Legisten Philipps des Schönen – die übergeordnete Autorität des Reiches aufkündigten und ein neues Recht behaupteten, jeder König sei „Kaiser“ in seiner abgesplitterten und absolut gewordenen Nation. Es wurde aber mit Recht hervorgehoben, daß diese Usurpation eine andere nach sich gerufen hat durch eine Art historischer Nemesis: innerhalb der souveränen, vom Reich losgelösten Nationalstaaten erklärten sich ihrerseits die Einzelnen souverän, selbständig und „frei“, sie kündigten jeden höheren Autoritätsgedanken auf und behaupteten das atomistische und individualistische Prinzip, das den „demokratischen“ Systemen zugrunde liegt.

Der organische Wiederaufbau setzt daher einen doppelten Prozeß der Integration voraus: die nationale Integration durch Anerkennung eines Prinzips der überindividuellen Autorität als Basis für die organische und ständische Gestaltung der politischen und sozialen Kräfte innerhalb jeder einzelnen Nation; die übernationale Integration durch Anerkennung eines Autoritätsprinzips, das nicht weniger über die einzelnen völkischen Einheiten emporragen soll wie jenes über die Einzelglieder eines bestimmten Staates. Werden diese Voraussetzungen nicht erfüllt, so bleibt man auf der Ebene des Gestaltlosen, des Zufälligen, des Labilen. Von einer Einheit im höhrenen, organischen Sinn kann dann kaum die Rede sein. Hier stößt man aber an den heikelsten Punkt der ganzen Problematik. Schon wegen ihrer übergeordneten Natur kann diese Autorität keinen rein politischen Chrarakter haben – was bereits jede Lösung im Sinne des Bonapartismus oder eines schlecht verstandenen Cäsarismus ausschließt. Was kann dann die wesentliche, innere Grundlage der neuen Ordnung sein?

Eine solche Grundlage sollte differenziert sein, weil sie der europäischen Einheit ein Eigengesicht zu geben hat, weil sie die Gewähr bieten soll, daß es sich gerade um Europa – um die „Nation Europa“ – als einen ganzheitlichen Organismus handelt, der sich von anderen, nicht-europäischen unterscheidet und ihnen gegenübersteht.

Die Annahme, daß diese Grundlage rein kulturell sein könne, ist unseres Erachtens illusorisch, wenn Kultur im landläufigen, intellektualistischen und modernen Sinne verstanden wird. Darf man etwa heute von einer im euroäischen Sinne eigengearteten Kultur reden? Es wäre gewagt, bejahend zu antworten, und der Grund dafür liegt in der Neutralsierung (wie Christoph Steding sich ausdrückte) der modernen Kultur. Diese Kultur hat sich von jeder politischen Idee selbständig gemacht, sie ist „privat“ und zugleich kosmopolitisch in der Tendenz, sie ist richtungslos, antiarchitektonisch, subjektivistisch und selbst in ihren „postitiven“ und wissenschaftlichen Formen gesichtslos und eben neutralisiert. Nur im verkehrten Sinne des nivellierenden „Totalitarismus“ wurde hier und da im Abendlande versucht, demgegenüber den Gedanken einer absoluten, politisch-kulturellen Einheit zu behaupten. Jedenfalls ist es als sicheres Zeichen eines frivolen und dilettantischen Denkens anzusehen, wenn man vorgibt, daß durch Verstandigungen und Tagungen von mehr oder weniger geltungssüchtigen Intellektuellen und Literaten etwas für die wahre, männliche europäische Einheit gewonnen werden könne.

Streng genommen sollte die Seele eines übernationalen Bundes religiös bestimmt sein, aber nicht abstrakt, sondern mit Anschluß an eine genaue, positive und normative geistige Autorität. Auch von den in Europa abgeschlosenen, tiefgreifenden Prozessen der Säkularisierung des allgemeinen Lebens abgesehen, gibt es heute auf unserem Kontinent keinen solchen Mittelpunkt. Der Katholizismus ist nur der Glaube einiger europäischer Nationen. Bereits in der nachnapoleonischen Zeit, unter Verhältnissen ungleich günstiger als den heutigen, war die Heilige Allianz, durch die sich gerade der Gedanke der männlichen, traditionsgebundenen Einheit der europäischen Staaten kundgab, nur dem Namen nach heilig, ihr fehlte eine wirklich religöse Weihe und eine übergeordnete universale Idee. Sollte nun nicht von Katholizismus, sondern nur vom Christentum gesprochen werden, so würde dies eine allzu ungestimmte und schwankene, nicht auschließlich europäsche und kaum für die euroäische Kutur allein benutzbare Grundlage bedeuten. Darüber hinaus ist die Vereinbarkeit des reinen Christentums mit einer „Metaphysik des Reiches“ fragwürdig; dies hat uns schon der mittelalterliche Streit zwischen den beiden Gewalten – wenn in seinen tieferen, von mir anderenorts gewürdigten Gründen verstanden – gezeigt.

Man spricht gerne von euroäischer Tradition; dies ist aber leider kaum etwas mehr als eine Phrase. Schon seit langem weiß das Abendland nicht mehr, was Tradition im höheren, organischen und metaphysischen Sinne bedeutet; beinahe seit der Zeit der Renaissance snd abendländischer Geist und antitraditioneller Geist fast zum Synonym geworden. Tradition im integralen Sinne ist eine Kategorie, die einer nahezu verschollenen Zeit zugehört, jenen Epochen, wo eine einzige gestaltende, im Metaphysischen wurzelnde Kraft sich in den Sitten, dem Kult, im Rechtswesen, im Mythos, in der Kunst, in der Weltanschauung, also in jedem Sondergebiet der Existenz, zeigte. Niemand wird zu behaupten wagen, daß heute eine europäisches Tradition in diesem, allein für unsere Frage ausschlagebenden Sinn da sei.

Man muß also von der unangenehmen Feststellung ausgehen, daß man sich heute in einer Welt der Trümmer befindet und daß man sich vorläufig mit Ersatzlösungen begnügen muß, indem man sich mindestens darum bemüht, nicht an Niveau zu verlieren, sich nicht von den Irrlehren des „Westens“ und des „Ostens“ ablenken zu lassen. Die föderalistisch-parlamentären und „sozialen“ Auffassungen der europäischen Einheit abzulehen, die organisatiorisch-qualitative Idee im Rahmen eines hierachischen und funktionellen Systems zu behaupten – dies wäre der erste positive Schritt! Dementsprechend sollte das Autoritätsprinzip in seinen den verscheidenen Gebieten und Ländern gemäßen Formen und Stufen anerkannt werden. Die übernationale europäische Einheit sollte vorläufig heroisch bestimmt sein, auch wenn es sich weder um Krieg noch um Abwehr handelt. Wenn zumindest in einigen Eliten ungebrochene Männer wieder eines Handelns und Denkens fähig sein werden, die von materiellen Banden, von der Beschränktheit partikularistischer Interessen und nationalistischer Hybris frei sind, dann wird ein Fluidum und eine Spannung ins Leben gerufen werden, die schöpferisch wirken können. Auch in anderen Zeiten ist es nämlich geschen, daß sich hinter solchen elementaren Bedingungen ein neues Prinzip offenbart hat, durch das in unsichtbarer und mächtiger Weise einem großen politischen Organismus die höhere Weihe zuteil wurde, der übernationale Autoritätsgedanke eine Legitimation erhielt und eine neue Epoche begann. Dann würde wirklich aus den Trümmern nicht so sehr die Nation Europa als das Reich Europa ertehen und eine drohende Gefahr der endgültigen Zersetzung

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