Wach sein ist alles.

Von nichts ist der Mensch so fest überzeugt wie davon, dass er wach sei;
dennoch ist er in Wirklichkeit in einem Netz gefangen, das er sich
selbst aus Schlaf und Traum gewebt hat. Je dichter dieses Netz, desto
mächtiger herrscht der Schlaf; die darein verstrickt sind, das sind die
Schlafenden, die durchs Leben gehen wir Herdenvieh zur Schlachtbank,
stumpf, gleichgültig und gedankenlos.

Die T r ä u m e n d e n unter ihnen sehen durch die Maschen der
vergitterten Welt, – sie erblicken nur irreführende Ausschnitte, richten
ihr Handeln darnach ein und wissen nicht, dass diese Bilder bloß
sinnloses Stückwerk eines gewaltigen Ganzen sind. Diese „Träumer“ sind
nicht, wie du vielleicht glaubst, die Phantasten und Dichter – es sind
die Regsamen, die Fleißigen, Ruhelosen der Erde, die vom Wahn des
Tun’s Zerfressenen; sie gleichen emsigen, hässlichen Käfern, die ein
glattes Rohr emporklimmen, um von oben –hineinzufallen.
Sie wähnen wach zu sein, aber das, was sie zu erleben glauben, ist in
Wirklichkeit nur Traum, – genau vorausbestimmt im kleinsten Punkt und
unbeeinflussbar von ihrem Willen.
Einige unter den Menschen hat’s gegeben und gibt es noch, die w u ß t e
n gar wohl, dass sie träumen, – Pioniere, die bis zu den Bollwerken
vorgedrungen sind, hinter denen sich das ewig wache Ich verbirgt, –
Seher wie Goethe,Schopenhauer und Kant, aber sie besaßen die Waffen
nicht, um die Festung zu e r s t ü r m e n und ihr Kampfruf hat die
Schläfer nicht erweckt.

Wach sein ist alles.

Sei wach bei allem, was du tust! Glaub nicht, dass du’s schon bist.
Nein, du schläfst und träumst.Stell dich fest hin, raff dich zusammen
und zwing dich einen einzigen Augenblick nur zu dem
körperdurchrieselnden Gefühl: ‚jetzt bin ich wach!’
Gelingt es dir, das zu empfinden, so erkennst du auch sogleich, dass der
Zustand, in dem du dich soeben noch befunden hast, dagegen wie Betäubung
und Schlaftrunkenheit erscheint.
Das ist der erste zögernde Schritt zu einer langen, langen Wanderung von
Knechttum zu Allmacht.
Auf diese Art geh’ vorwärts von Aufwachen zu Aufwachen.
Es gibt keinen quälenden Gedanken, den du damit nicht bannen könntest;
er bleibt zurück und kann nicht mehr zu dir empor; du reckst dich über
ihn, so wie die Krone eines Baumes über die dürren Äste hinauswächst.
Die Schmerzen fallen von dir ab wie welkes Laub, wenn du einmal so weit
bist, dass jenes Wachsein auch deinen Körper ergreift.
Die eiskalten Tauchbäder der Juden und Brahmanen, die Nachtwachen der
Jünger Buddhas und der christlichen Asketen, die Foltern der indischen
Fakire, um nicht einzuschlafen, – sie alle sind nichts anderes als
erstarrte äußerliche Riten, die wie Säulentrümmer dem
Suchenden verraten: Hier hat in grauer Vorzeit ein geheimnisvoller
Tempel des Erwachenwollens gestanden.
Lies die heiligen Schriften der Völker der Erde: durch alle zieht sich
wie ein roter Faden die verborgene Lehre vom Wachsein; – es ist die
Himmelsleiter Jakobs, der mit dem Engel des Herrn die ganze „Nacht“
gerungen hat, bis es „Tag“ wurde und er den Sieg gewann.
Von einer Sprosse immer hellern und hellern Wachseins zur andern musst
du steigen, wenn du den Tod überwinden willst, dessen Rüstzeug: Schlaf,
Traum und Betäubung sind.
Schon die unterste Sprosse dieser Himmelsleiter heißt: Genie; wie erst
sollen wir die höheren Stufen benennen! Sie bleiben der Menge unbekannt
und werden für Legenden gehalten. – Auch die Geschichte von Troja galt
jahrhundertelang als Sage, bis endlich einer den Mut fand – und grub
selber nach.
Auf dem Wege zum Erwachen wird der erste Feind, der sich dir
entgegenstellt, dein eigner Körper sein. Bis zum ersten Hahnenschrei
wird er mit dir kämpfen; erblickst du aber den Tag des ewigen Wachseins,
der dich fernrückt von den Nachtwandlern, die da glauben, die seien
Menschen, und nicht wissen, dass sie schlafende Götter sind, dann
verschwindet für dich auch der Schlaf des Körpers und das Weltall ist
dir untertan.
Dann kannst du Wunder tun, wenn du willst, und musst nicht wie ein
wimmernder Sklave demütig harren, bis es einem grausamen Götzen gefällig
ist, dich zu beschenken oder – dir den Kopf abzuschlagen.

Auszug aus „Das grüne Gesicht“ von Gustav Meyrink

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